Von einem der auszog das Fürchten zu lernen
Günter Heumann-Storp • Apr. 24, 2021
Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen…
Wer kennt ihn nicht, den Töpfersohn Michel, der einfach keine Angst haben konnte. Als die Gebrüder Grimm am 20. Dezember 1812 das Märchen erstmals veröffentlichten, wussten sie noch nicht, dass die Angst im 21. Jahrhundert sicher auch Michel ergriffen hätte, wenn er denn in eine Polizeikontrolle geraten wäre.
Es ist wie zum Märchen. Wer arbeitet weiß, dass er für sein Geld auch eine Gegenleistung erbringen muss. Der Automechaniker repariert Kraftfahrzeuge, Lehrer bringen uns im besten Fall etwas bei, was wir später auch noch im Leben brauchen können und Polizisten, nun ja, die bringen uns bisweilen bei, dass man sich an Verkehrsregeln zu halten hat, auch dann, wenn man den Sinn persönlich vielleicht nicht einsehen mag. Kontrolle muss sein, das hat mir mein alter Mathematiklehrer schon zu einer Zeit gesagt, zu der ich Kontrollen noch für eine Marotte des Establishment gehalten habe. Und heute, nun, da weiß ich es besser. Was nicht kontrolliert wird, wird auch nicht eingehalten. So weit so gut.
Aber was darf der Kontrolleur? Mein Mathematiklehrer mit dem wegweisenden Namen Berg - er wird es mir verzeihen, dass ich ihn aus der Anonymität reiße - hat uns Klausuren schreiben lassen. Das durfte er nicht nur, das musste er auch tun. Beim Mechaniker schaut auch der Meister nach der Arbeit.
Und bei der Polizei? Da kontrolliert man das Arbeitsergebnis. Es fragt sich jedoch bisweilen: Wie kommt das Endergebnis zustande und was rechtfertigt die eigene Handlung? Platt gesagt: Darf die Polizei alles, um ein einmal gesetztes Ziel zu erreichen? Und was hat das mit den Gebrüdern Grimm zu tun?
Am konkreten Beispiel klärt sich alles auf:
Eine Gruppe Polizisten richtet unter der Brücke einer Kraftfahrstraße eine mobile Geschwindigkeitskontrolle ein, lasert etwa 300 Meter nach einer ortsfesten Blitze die Verkehrsteilnehmer und hält sie danach am Fahrbahnrand der Kraftfahrstraße an, wenn sie zu schnell gefahren sind. Die pfiffige Erkenntnis dahinter: Kurz nach einer ortsfesten Blitzanklage beschleunigen viele, im Glauben, dass nun die Gefahr (siehe Gebrüder Grimm) vorbei ist. Vertan vertan, sprach der Hahn… Schon wird man angehalten und mit einem Geschwindigkeitsverstoß konfrontiert. 20 Euro muss Michel zahlen. Nun ja, so weit so ungut.
Aber auf einer Kraftfahrstraße ist schon das bloße Anhalten, auch auf dem Seitenstreifen, verboten und kostet 35 Euro, wenn man dagegen verstößt. Aus gutem Grunde. Andere Verkehrsteilnehmer rauschen an Michels Fahrertür vorbei, der nun auch noch aussteigen muss, während der Wachtmeister auf der sicheren Beifahrerseite steht.
Und nun geschieht das Unfassbare. Zum ersten Mal in seinem Lebern bekommt es Michel mit der Angst zu tun. Für das Anhalten auf der Schnellstraße gibt es einen Rechtfertigungsgrund in Form der polizeilichen Anhaltekelle. Er muss also nicht neben den 20 Euro für zu schnelles Fahren noch 35 Euro für das provozierte Anhalten bezahlen. Aber er fürchtet um seine Gesundheit. Schnell sind die 20 Euro bezahlt. Bloß weg hier. Eine Frage kann sich Michel allerdings nicht verkneifen: „Warum halten Sie eigentlich an dieser Stelle Autos an?“
Die Antwort des Wachtmeisters ist bühnenreif: „Es haben sich Anwohner wegen des Verkehrslärms beschwert.“ Die Schnellstraße ist an der Stelle übrigens mit hohen Lärmschutzwällen gesäumt. Aber das kann man in der Hektik der täglichen Arbeit schon einmal übersehen. Und die zitierten Anwohner leben hunderte Meter entfernt auf der anderen Seite der Wälle. Auch das darf sicher verkannt werden. Neben seiner Angst kann Michel ein Gefühl aufkommender Belustigung nicht verkneifen. So viel Humor bei so einer ernsten Arbeit hätte er von der Polizei nicht erwartet.
Zu Hause angekommen stellt sich Michel nur noch die Frage: Darf die Polizei zur Geschwindigkeitsüberwachung eigentlich an so einer Stelle eine Anhaltekontrolle einrichten? Schließlich wird die Gefährdung der Autofahrer billigend in Kauf genommen, wenn man sie dort anhält. Ich möchte diese Frage nicht zur Diskussion stellen, sondern gleich auflösen: Sie darf es nicht, was allerdings nichts an dem festgestellten Verkehrsverstoß ändert. Laut einer Dienstanweisung dürfen Geschwindigkeitskontrollen als Anhaltekontrollen auf Kraftfahrstraßen (umgangssprachlich Schnellstraße) und Autobahnen nicht durchgeführt werden. Schließlich soll Michel nicht das Fürchten lernen.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute…
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